Montag, 26. Oktober 2015

"Verrottetes System der FIFA" Zwanziger: Korruption bei WM-Vergabe alternativlos

http://www.t-online.de/sport/fussball/id_75895776/theo-zwanziger-nennt-korruption-bei-wm-vergabe-alternativlos.html


"Verrottetes System der FIFA"
Zwanziger: Korruption bei WM-Vergabe alternativlos

25.10.2015, 20:44 Uhr | sid
Theo Zwanziger nennt Korruption bei WM-Vergabe alternativlos. Theo Zwanziger legt in der Debatte um Korruptionsvorwürfe gegen den FIFA nach. (Quelle: dpa)
Theo Zwanziger legt in der Debatte um Korruptionsvorwürfe gegen den FIFA nach. (Quelle: dpa)

Theo Zwanziger hat in der Affäre um mutmaßliche Manipulationen bei der Vergabe der Weltmeisterschaft 2006 nachgelegt. Der frühere Präsident des Deutschen Fußball-Bunds (DFB) bezeichnete Korruption im Zuge der deutschen Bewerbung um die Heim-WM als alternativlos.
"Der Ausgang dieser Geschichte liegt im richtig verrotteten System der FIFA, in das Beckenbauer hineinstolpern musste, um überhaupt eine Chance zu haben, die WM nach Deutschland zu holen", sagte Zwanziger in einem Interview mit Spiegel TV.

Die ominösen 6,7 Millionen

Franz Beckenbauer soll als Chef des WM-Organisationskomitees 2006 den im DFB-Skandal umstrittenen Handel eingefädelt haben - laut DFB-Präsident Wolfgang Niersbach in einem Vier-Augen-Gespräch mit FIFA-Präsident Joseph Blatter.
WM-Affäre 
DFB-Präsident Niersbach stellt sich der Presse
In der DFB Zentrale in Frankfurt versuchte er, die dubiosen Zahlungen an die Fifa zu erklären. Video
Beide hätten vereinbart, dass die deutschen WM-Macher in Hoffnung auf einen späteren Organisationszuschuss in Höhe von 170 Millionen Euro zunächst 6,7 Millionen Euro an den Weltverband überweisen. Blatter bestritt dies am Sonntag.

"Kein Zweifel an schwarzer Kasse"

Zwanziger bekräftigte in diesem Zusammenhang seinen Vorwurf einer "schwarzen Kasse" im Dunstkreis der deutschen WM-Bewerbung. "Das Organisationskomitee hatte 2002 einen eigenen Haushalt, der Geldtransfer, der da in Rede steht, ist heimlich und damit auch ein Stück illegal erfolgt", sagte er.
"Das ist die Bezeichnung für eine schwarze Kasse." Es gebe "überhaupt keinen Zweifel daran, dass dies eine schwarze Kasse ist".

Keine Rache an Niersbach - aber erneut Vorwürfe

Zwanziger erneuerte auch die Vorwürfe gegen Niersbach, den er zuvor der Lüge bezichtigt hatte. "Warum hat dieser Wolfgang Niersbach nicht mit mir gesprochen? Warum hat er nicht gefragt: Theo, was hast du denn da an Erkenntnissen aus dieser Zeit?"
Rachegelüste in der alten Männerfeindschaft mit Niersbach verspüre er allerdings nicht. "Dass ihm das vielleicht jetzt ein bisschen auf die Füße fällt und mich in die Rolle treibt, als wollte ich dem Herrn Niersbach sein Amt nehmen, das will ich nicht. Da bin ich weit von entfernt", sagte Zwanziger.
"Von mir aus kann der da noch 20 Jahre regieren - das ist völlig egal. Aber ich muss mich auch selbst schützen und trete für Wahrheit ein. Das kann man mir nicht verübeln."


Balkan-Plan zur Flüchtlingskrise 17 Punkte gegen die "Politik des Durchwinkens"

http://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/gesellschaft/id_75896470/eu-gipfel-neuer-balkan-plan-gegen-die-fluechtlingskrise.html

Balkan-Plan zur Flüchtlingskrise
17 Punkte gegen die "Politik des Durchwinkens"

26.10.2015, 09:38 Uhr | rtr, dpa
EU-Gipfel: Neuer Balkan-Plan gegen die Flüchtlingskrise. Jeden Tag strömen Flüchtlinge entlang der Balkanroute über die Grenzen - wie hier zwischen Griechenland und Mazedonien. (Quelle: AP/dpa)
Jeden Tag strömen Flüchtlinge entlang der Balkanroute über die Grenzen - wie hier zwischen Griechenland und Mazedonien. (Quelle: AP/dpa)
Vertreter der Europäischen Union und mehrerer Balkanländer wollen mit Sofortmaßnahmen die Flüchtlingskrise entschärfen: Entlang der Balkanroute sollen 100.000 Plätze zur Unterbringung für Flüchtlingen entstehen. Dort ist auch die Registrierung der Schutzsuchenden vorgesehen.
50.000 Plätze sollen allein in Griechenland entstehen, erklärte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker nach dem Ende des Sondergipfels in Brüssel.
Die griechische Regierung beabsichtigt davon 30.000 Plätze bis Jahresende zur Verfügung zu stellen und mit Hilfe des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR weitere 20.000. "Die Menschen auf der Balkanroute müssen menschlich behandelt werden", sagte Juncker. "Es kann nicht sein, dass Menschen im Jahr 2015 auf Feldern schlafen müssen, und das bei sehr kalten Temperaturen."
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Neben den Unterkünften sollen verstärkte Grenzkontrollen von EU-Staaten und Westbalkanländer die Flüchtlingsströme verlangsamen.

Kein Durchwinken mehr

"Wir werden Flüchtlinge oder Migranten entmutigen, zur Grenze eines anderes Landes der Region zu ziehen", heißt es in einer gemeinsamen Erklärung von Spitzenpolitikern aus betroffenen EU-Ländern und den drei Nicht-EU-Ländern Mazedonien, Serbien und Albanien. "Eine Politik des Durchwinkens von Flüchtlingen ohne die Nachbarstaaten zu informieren, ist nicht akzeptabel."
Nach siebenstündigen Beratungen einigten sich die Staats- und Regierungschefs auf einen 17-Punkte-Plan. Doch die Stimmung war angespannt. Seit Wochen weisen sich die Länder der Region gegenseitig die Schuld zu - so auch in Brüssel. "Jeder ist versucht zu sagen, jemand anders ist schuld", sagte ein Diplomat am Rande der Gespräche. "Das müssen wir stoppen."
Kroatiens Regierungschef Zoran Milanovic kritisierte Griechenland als Tor für Flüchtlinge in die Europäische Union: "Warum kontrolliert Griechenland nicht sein Seegebiet zur Türkei? Ich weiß es nicht."

Mehr Grenzschützer für Slowenien

Der Plan sieht unter anderem vor, dass andere EU-Staaten innerhalb einer Woche mehr als 400 zusätzliche Grenzschützer in das vom Flüchtlingsandrang überforderte Slowenien schicken. Außerdem soll die EU-Grenzschutzagentur Frontex die Grenzen besser absichern, etwa zwischen Griechenland, Mazedonien und Albanien sowie an der kroatisch-serbischen Grenze.
Täglich strömen Tausende über die Westbalkanroute in Richtung Österreich und Deutschland. Die meist aus dem Bürgerkriegsland Syrien stammenden Menschen kommen über die Türkei in die EU.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sprach von einem "wichtigen Treffen dahingehend, dass humanitäre Fragen einer Erklärung zugeführt werden konnten". Es gebe ein "koordinierteres Management", sagte die Kanzlerin: "Dazu haben sich jedenfalls alle verpflichtet." Merkel warnte allerdings, das Treffen sei nur "ein Baustein" für eine Lösung: "Nicht lösen können wir das Flüchtlingsproblem insgesamt. Da bedarf es unter anderem natürlich weiterer Gespräche mit der Türkei."

Wenig Optimismus

Serbiens Ministerpräsident Aleksandar Vucic äußerte am Abend wenig Hoffnung auf rasche Fortschritte. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban sieht sein Land, das sich mit Grenzzäunen zu Serbien und Kroatien abgeriegelt hat, nur noch als "Beobachter" der Flüchtlingskrise. "Ungarn liegt nicht mehr auf der Route", sagte er. Transitstaaten wie Bulgarien, Rumänien und Serbien drohen ebenfalls mit der Schließung der Grenzen.
Sloweniens Regierungschef Miro Cerar warnte vor dem Ende der EU, wenn Europa die Krise nicht in den Griff bekomme: "Europa steht auf dem Spiel, wenn wir nicht alles tun, was in unserer Macht steht, um gemeinsam eine Lösung zu finden." In den vergangenen zehn Tagen seien in seinem Land mehr als 60.000 Flüchtlinge angekommen. Umgerechnet auf ein großes Land wie Deutschland entspräche dies einer halben Million Ankömmlinge in Deutschland pro Tag.


Sonntag, 25. Oktober 2015

Athens Widerstand gegen EU-Pläne "Griechenland ist kein riesiges Flüchtlingslager"-Die Träumer in Brüssel

http://www.t-online.de/nachrichten/ausland/eu/id_75893488/-griechenland-kein-riesiges-fluechtlingslager-.html

Athens Widerstand gegen EU-Pläne
"Griechenland ist kein riesiges Flüchtlingslager"

25.10.2015, 16:48 Uhr | dpa
"Griechenland kein riesiges Flüchtlingslager". Das Olympische Dorf in Athen: Geht es nach Plänen der EU-Kommission, soll hier ein riesiges Erstaufnahmezentrum für Flüchtlinge entstehen. (Quelle: dpa)
Das Olympische Dorf in Athen: Geht es nach Plänen der EU-Kommission, soll hier ein riesiges Erstaufnahmezentrum für Flüchtlinge entstehen. (Quelle: dpa)


Die Flüchtlingskrise hat Europa im Griff. Bereits vor dem Treffen in Brüssel am Sonntagnachmittag zeichnet sich ein Streit der EU-Kommission mit den überforderten Transitländern auf dem Balkan und mit Griechenland ab: Grund dafür ist der 16-Punkte-Plan von Kommissionschef Jean-Claude Juncker
Angeblich wolle die Brüsseler Institution vorschlagen, bis zu 50.000 Flüchtlinge bei ihrer Ankunft zu registrieren anstatt ins nächste Land durchzuwinken. Dabei wird das Olympiagelände in Athen ins Spiel gebracht.
Das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" hatte bereits am Samstag ohne Angabe von Quellen berichtet, die EU-Kommission plane in ihrem 16-Punkte-Plan, die Erstaufnahme von Flüchtlingen von den Ost-Ägäis-Inseln Kos und Lesbos auf das griechische Festland zu verlegen.



 
 
 
Unsere wichtigsten ThemeAthen wehrt sich bereis im VorfeldBei der griechischen Regierung stößt dieses Brüsseler Vorhaben auf Ablehnung:
"Sowohl Ministerpräsident Tsipras als auch ich haben immer wieder gesagt, dass wir aus unserem Land kein riesiges Flüchtlingslager machen können", sagte der für Einwanderung zuständige Minister Giannis Mousalas am Samstagabend in einer Talkshow des griechischen Fernsehsenders Mega.
Die Idee sei nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch und gesellschaftlich nicht umzusetzen.

Die Antwort wird "Nein" lauten

"Von griechischer Seite existiert keine Idee dieser Art", so Mousalas weiter. Sollte das Thema am Sonntag beim Brüsseler Spitzentreffen zur Flüchtlingskrise auf den Tisch kommen, werde die Antwort der griechischen Regierung "Nein" lauten.

Auch Kroatien kündigt Widerstand an 

Auch Kroatien hat im Vorfeld des Treffens einen von Junckers 16 Punkten zur Lösung der Flüchtlingskrise als weltfremd und nicht machbar abgelehnt. Dieser Punkt sieht vor, dass Länder an der sogenannten Balkanroute Flüchtlinge nur mit Zustimmung des Nachbarlandes dorthin weiter reisen zu lassen.
"Das ist unmöglich - wer immer das geschrieben hat, hat keine Ahnung, wie die Dinge laufen und muss gerade aus einem monatelangen Schlaf erwacht sein", sagte der kroatische Ministerpräsident Zoran Milanovic dazu.
Die einzige Möglichkeit, den Flüchtlingsandrang zu kontrollieren, bestehe an der türkisch-griechischen Grenze, so Milanovic weiter. "Alles andere ist Zeitverschwendung."

Balkanstaaten drohen mit Grenzschließungen

Die betroffenen EU-Balkanstaaten haben im Vorfeld des Treffens gedroht, angesichts der Flüchtlingsströme ihre Grenzen dicht machen zu wollen, sollten Österreich und Deutschland keine Menschen mehr aufnehmen.
An dem Treffen werden Vertreter aus Griechenland, Rumänien, Bulgarien, Ungarn, Kroatien und Slowenien sowie Österreich und Deutschland teilnehmen. Ebenfalls mit dabei sind die Nicht-EU-Staaten Serbien und Mazedonien.

Samstag, 24. Oktober 2015

Flüchtlinge in Deutschland: Nur weg

http://www.spiegel.de/politik/deutschland/fluechtlinge-abschiebungen-koennen-beginnen-a-1059344.html


Flüchtlinge in Deutschland: Nur weg

Abgelehnte Asylbewerber am Flughafen in Rheinmünster (im Feb. 2015): Mehr Abschiebungen geplant Zur Großansicht
DPA
Abgelehnte Asylbewerber am Flughafen in Rheinmünster (im Feb. 2015): Mehr Abschiebungen geplant
Die Flüchtlingszahlen bleiben hoch in Deutschland, der Winter naht. Mit dem ab Samstag geltenden Gesetzespaket sollen Abschiebungen schneller möglich sein. Doch so einfach ist das nicht.
Wenig Zeit? Am Textende gibt's eine Zusammenfassung.

Es kann jetzt gar nicht schnell genug gehen: Die jüngst beschlossene Verschärfung des Asylrechts soll schon einige Tage früher in Kraft treten als ursprünglich geplant. Statt vom 1. November an gilt das sogenannte Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz schon ab Samstag. Es erlaubt unter anderem die raschere Abschiebung von Flüchtlingen. Da wolle man "schnell besser werden noch in diesem Jahr" kündigte Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) am Freitag an.
Die Große Koalition braucht in der Flüchtlingskrise dringend etwas, mit dem sie Handlungsfähigkeit beweisen kann. Denn die Zahl der Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, sinkt weiterhin nicht, und die Nachrichten von den griechischen Inseln und dem Westbalkan zeigen: Daran wird sich so schnell nichts ändern. Längst geht man von weit mehr als einer Million Menschen aus, die bis Ende des Jahres hierzulande Zuflucht gesucht haben werden. Die Stimmung in der Bevölkerung wird immer angespannter. Deshalb sollen nun nach Ansicht von Union und SPD wenigstens diejenigen rascher das Land verlassen, die keine Aussicht auf Asyl haben.
Um schneller und zahlreicher abschieben zu können, war zwischenzeitlich sogar der Einsatz von Transall-Maschinen der Luftwaffe im Gespräch, in jedem Fall sollen nun mehr Charter-Flugzeuge angemietet werden, wie Innenminister Thomas de Maizière (CDU) am Freitag mitteilte. Zudem haben de Maizière und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) eine Initiative gestartet, um abgelehnte Asylbewerber aus dem Westbalkan schneller abzuschieben.
Verstärkte Abschiebungen ab dem Wochenende möglich
Theoretisch könnte man mit den verstärkten Rückführungen sofort beginnen: Zehntausende Flüchtlinge halten sich in Deutschland auf, deren Asylanträge abgelehnt wurden und die keinen Duldungsstatus genießen - also abgeschoben werden könnten. Für die Abschiebungen sind die jeweiligen Bundesländer zuständig. Doch von dort sind bisher kaum Informationen darüber zu erhalten, was geplant ist. So heißt es aus Baden-Württemberg lediglich, man werde ab nächster Woche umfangreicher abschieben. Gleiches gilt für Mecklenburg-Vorpommern und Hamburg.
Konkrete Zahlen gibt es nicht. Grund für die Zurückhaltung könnte sein, dass die Veröffentlichung von Abschiebeplänen für besondere Unruhe unter den sogenannten ausreisepflichtigen Flüchtlingen sorgen könnte. Gleichzeitig wäre mit erheblichem Widerstand bei Abschiebungsgegnern und Flüchtlingsinitiativen zu rechnen.
So heißt es beispielsweise vom Berliner Innensenat lediglich, dass man "die aufgrund der Beschleunigung der Verfahren notwendigen Anpassungen vornehmen und die Zahl der Charterflüge perspektivisch weiter erhöhen" werde. Ein Sprecher des bayerischen Innenministeriums sagte auf Anfrage, der Freistaat werde seine wöchentlichen Sammelabschiebungen fortsetzen. Man sei froh darüber, diese Abschiebungen künftig intensivieren zu können: "Wir werden das dankbar nutzen."
Mancher Zuständige in den Bundesländern fragt sich angesichts der großspurigen Ankündigung von Kanzleramtschef Altmaier allerdings, ob man in der Regierungszentrale überhaupt weiß, wie Abschiebungen geregelt werden: Für die Rückführung abgelehnter Asylbewerber ist stets eine gewisse Vorlaufzeit nötig. Manchmal geht es um die Ausstellung von Reisepapieren, manchmal stehen der Abschiebung noch laufende Rechtsbehelfsverfahren im Wege. Auch deshalb gibt es bisher kaum verlässliche Angaben dazu, wie viele abgelehnte Asylbewerber in den kommenden Wochen abgeschoben werden sollen.
Koalition ringt um Transitzonen
Während sich die Koalition beim Thema Abschiebungen einig ist, kommt man bei einem anderen Thema bisher nicht zueinander, das zur Beschleunigung der Asylverfahren beitragen könnte: Die Transitzonen sorgen weiter für Streit.
Die Union hatte vorgeschlagen, analog zu der Praxis an etlichen deutschen Flughäfen, entsprechende Einrichtungen an den deutschen Außengrenzen zu errichten: Der Plan sah vor, Flüchtlinge an den deutschen Grenzen bis zu einer Woche festzuhalten, ihr Asylgesuch im Schnellverfahren zu prüfen und sie gegebenenfalls direkt wieder in die Heimat zurückzuschicken. Doch die SPD widersprach vehement und warnte vor "Massengefängnissen". Klassische Transitzonen mit Hafteinrichtungen und extraterritorialem Charakter sind daher nun wohl vom Tisch, stattdessen wollen die Koalitionspartner nach anderen Möglichkeiten suchen, um direkt an den deutschen Grenzen Verfahren zu beschleunigen. Darauf haben sich Union und SPD verständigt.
Während in München CSU-Chef Horst Seehofer jubelte, er habe sich mit der Idee der Transitzonen durchgesetzt, vermied de Maizière bei der Verkündung der Grundsatzeinigung den Begriff. Bei den Sozialdemokraten war von "Registrierungsstellen für ankommende Asylbewerber" die Rede, um im grenznahen Gebiet Asylanträge zu prüfen, die offensichtlich aussichtslos seien. Dies könne in bereits bestehenden oder im Aufbau befindlichen Einrichtungen geschehen.

Zusammengefasst: Das verschärfte Asylrecht soll statt vom 1. November an schon von diesem Samstag an gelten. Damit will die Bundesregierung auch schnellere Abschiebungen von Asylbewerbern ohne Bleibeperspektive ermöglichen, um die anhaltend hohen Flüchtlingszahlen zu senken. Die Koalition verkündet auch eine Grundsatzeinigung bei den Transitzonen - sie sollen aber nicht mehr so heißen.

Schlüsselfigur in WM-Affäre Franz Beckenbauer und das große Schweigen

http://www.t-online.de/sport/fussball/id_75866832/skandal-zur-wm-2006-franz-beckenbauer-schweigt-weiter.html


Schlüsselfigur in WM-Affäre
Franz Beckenbauer und das große Schweigen

24.10.2015, 09:57 Uhr | dpa

Franz Beckenbauer gerät in der Affäre um die WM 2006 in Bedrängnis.  (Quelle: imago/Laci Perenyi)


  gerät in der Affäre um die WM 2006 in Bedrängnis. (Quelle: Laci Perenyi/imago)
Franz Beckenbauer steht gerne im Rampenlicht. Erst Anfang Oktober zeigte sich der Kaiser beim Camp Beckenbauer, wie er am liebsten gesehen wird - Handshake mit IOC-Präsident Thomas Bach, neben DFB-Chef Wolfgang Niersbach. Binnen einer Woche ist der 70-Jährige nun auf ganz unliebsame Weise in den Fokus gerückt.
Als Angeklagter im Verfahren FIFA-Ethikkomission und Schlüsselfigur der dubiosen Millionen-Zahlung im Zuge seiner WM, dem Sommermärchen 2006. Sein Ruf als stets gefeierter Erfolgsmensch und Ikone steht jetzt auf dem Spiel.
Erst einmal taucht Beckenbauer derzeit völlig ab, verzichtet auf die große Bühne. Den fest geplanten Auftritt bei der Gala zur Eröffnung des Deutschen Fußballmuseums in Dortmund strich er aus dem Kalender, lässt sein Management die ungewohnte Sprachlosigkeit für ihn in Worte packen: "Franz Beckenbauer wird sich bis auf weiteres nicht öffentlich äußern." Stattdessen wolle er der externen Untersuchungskommission des DFB "Rede und Antwort" stehen.

Welche Rolle spielt der Kaiser?

Schon das Verfahren vor der Ethik-Kommission, um seine mangelnde Kooperation im Zuge der Untersuchung der umstrittenen WM-Vergaben 2018 und 2022, fügte der makellosen Erscheinung der Lichtgestalt deutliche Kratzer zu. Die Rolle als Strippenzieher und Organisationschef bei der Bewerbung um die Weltmeisterschaft 2006 wirft noch mehr Fragen auf.
Im Zentrum steht ein kolportiertes Treffen von Beckenbauer mit FIFA-Boss Sepp Blatter Anfang 2002 in Zürich. Dabei soll es laut Niersbach zu einer Einigung für eine Überweisung von 6,7 Millionen Euro an die FIFA gekommen sein. Diese Zahlung habe der damalige Adidas-Chef und Beckenbauer-Intimus Robert Louis-Dreyfus vorgenommen.

Zahlung nicht mit Komitee abgesprochen

So zeichnen nicht nur der angezählte Niersbach, sondern auch dessen Vorgänger Theo Zwanziger und auch der Organisationskomitee-Vize Horst R. Schmidt ein klares Bild: das eines Alleingangs Beckenbauers, der vorbei an den Gremien und offiziellen Wegen alles für eine erfolgreiche WM unternommen haben soll. "Die Zahlung wurde zugesagt, ohne dass dies vorher mit dem OK besprochen wurde", sagte Schmidt.
Doch ging es dabei um die Finanzierung der WM-Organisation, wie es Niersbach nach einem Treffen am Dienstag in Salzburg berichtete? Oder vielmehr doch um die Zeit, als der Zuschlag des stets skandalumtosten Exekutivkomitees erst noch ausstand? Dies suggeriert zumindest Zwanziger mit seiner jüngsten Einlassung im "Spiegel". In einem Gutachten heiße es, dass Beckenbauer Louis-Dreyfus einen Schuldschein "auf sich persönlich ausgestellt" habe. Das Papier soll Beckenbauer "in seiner Tätigkeit im Rahmen der Bewerbung für die WM 2006" unterzeichnet haben.
WM-Affäre 
DFB-Präsident Niersbach stellt sich der Presse
In der DFB Zentrale in Frankfurt versuchte er, die dubiosen Zahlungen an die Fifa zu erklären. Video

Dünnes Statement 

So steigt täglich der Erklärungsdruck. Seit Beginn der Affäre, die den deutschen Fußball in eine der größten Krisen seiner Geschichte stürzt, gibt es von Beckenbauer nur zwei dünne Statements. Vier Sätze, 60 Worte, keine Aufklärung. "Ich habe niemandem Geld zukommen lassen, um Stimmen für die Vergabe der Fussballweltmeisterschaft 2006 nach Deutschland zu akquirieren. Und ich bin sicher, dass dies auch kein anderes Mitglied des Bewerbungskomitees getan hat", hieß es noch vergangenen Sonntag.


Samstag, 10. Oktober 2015

Proteste gegen Flüchtlinge Dresdner bewerfen Polizisten mit Steinen


http://www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/proteste-gegen-fluechtlinge-in-dresden-und-cottbus-13849074.html

Proteste gegen FlüchtlingeDresdner bewerfen Polizisten mit Steinen

In einem Plattenbauviertel in Dresden gab es Krawall vor einem geplanten Flüchtlingsheim. In Cottbus konnte die Polizei eine heikle Situation rechtzeitig entschärfen.

Main-Taunus-Kreis ruft Katastrophenfall aus

http://www.zeit.de/politik/deutschland/2015-10/main-taunus-katastrophenfall

Flüchtlinge:Main-Taunus-Kreis ruft Katastrophenfall aus

Der hessische Landkreis hat wegen der Aufnahme von 1.000 Flüchtlingen den Katastrophenfall erklärt. In Thüringen will ein Landkreis vorerst gar keine Migranten aufnehmen.
Ein junger Mann aus Syrien schaut aus dem Fenster einer Flüchtlingsunterkunft in Hofheim im Main-Taunus-Kreis.
Ein junger Mann aus Syrien schaut aus dem Fenster einer Flüchtlingsunterkunft in Hofheim im Main-Taunus-Kreis. © Arne Dedert/dpa
Der Landkreis Main-Taunus muss kurzfristig 1.000 Flüchtlinge aufnehmen und hat deshalb den Katastrophenfall ausgerufen. "Das hat vor allem rechtliche und organisatorische Vorteile", sagte der Sprecher des Landkreises, Johannes Latsch, ZEIT ONLINE. Am Freitagmorgen sei Landrat Michael Cyriax (CDU) vom Land informiert worden, dass bis Montag, 14 Uhr 1.000 Migranten ankommen sollen. Anschließend habe man den Notstand erklärt. Nun sei der Kreis weisungsberechtigt und könne beispielsweise Kommunen anweisen, Unterkünfte für die Flüchtlinge zur Verfügung zu stellen.  
"Die Menschen, die kommen, sind für uns nicht die Katastrophe", betonte Latsch. Es sei allerdings auch ein politisches Signal, das der Landrat senden wolle. "Wir stemmen das, aber man muss sich zunehmend fragen, ob sich die Herausforderung ohne die Mittel des Katastrophenschutzes bewältigen lässt." So mangele es vielen Landkreisen an eigenen großen Hallen. Zudem ließen sich nur so hohe baurechtliche Standards umgehen. Wie lange der Katastrophenfall gelten werde, könne man derzeit noch nicht sagen. "Wir werden das von der Lage abhängig machen." Nach Angaben des Landrates ist es das erste Mal seit 1945, dass im Kreis der Katastrophenfall festgestellt wurde.   
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Das hessische Landesinnenministerium kritisierte die Entscheidung. "Eine vorherige Abstimmung mit dem Innenministerium hat dazu nicht stattgefunden", sagte ein Sprecher dem Hessischen Rundfunk. Der Kreis hätte auch ohne den Ausruf des Katastrophenfalls Anspruch auf nötige Mittel wie Feldbetten oder Fahrzeuge sowie auf Unterstützung durch die Feuerwehr oder das Technische Hilfswerk gehabt. "Wir können von hier nicht nachvollziehen, welche Gründe den Kreis dazu bewogen haben."  

Landkreis in Thüringen verweigert Aufnahme

Geregelt ist der Katastrophenfall im Hessischen Gesetz über den Brandschutz, die Allgemeine Hilfe und den Katastrophenschutz sowie in weiteren Gesetzen, Verordnungen und Richtlinien. Als oberster Leiter des Katastrophenschutzes übernimmt demnach der Landrat die Gesamtverantwortung für den Einsatz. Er kann dabei unter anderem den Kommunen Anweisungen geben. Zudem sind bestimmte baurechtliche Genehmigungen in den Unterkünften außer Kraft gesetzt.
Der Wartburgkreis in Thüringen will derweil vorerst gar keine Flüchtlinge mehr aufnehmen, berichtet der Tagesspiegel. Demnach habe sich der Landrat Reinhard Krebs (CDU) in einem Brief an den Ministerpräsidenten Bodo Ramelow (Linke) gewandt und erklärt, die Möglichkeiten zur Unterbringung von Asylbewerbern seien erschöpft. Erst ab Dezember stünden wieder neue Plätze für Asylbewerber zur Verfügung.
Nach den aktuellen Zahlen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf) sind zwischen Januar und September 577.000 Flüchtlinge nach Deutschland gekommen, 198.000 aus Syrien. Laut Bamf ist im September mit 164.000 Menschen ein besonders starker Anstieg registriert worden. Angesichts der steigenden Zahlen stehen die Länder und Kommunen zunehmend vor logistischen Problemen, die Menschen unterzubringen und angemessen zu versorgen. Bereits Ende Juli hatte etwa München kurzzeitig den Notstand ausgerufen, um so schneller handeln zu können.

Freitag, 9. Oktober 2015

Bayern plant Notwehr

http://www.welt.de/politik/deutschland/article147404771/Bayern-plant-Notwehr-gegen-Fluechtlinge.html


Benimmregeln für Flüchtlinge „Liebe fremde Frau, lieber fremder Mann“

http://www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/benimmregeln-fuer-fluechtlinge-lieber-fremder-mann-13846048.html

Benimmregeln für Flüchtlinge„Liebe fremde Frau, lieber fremder Mann“

Die Gemeinde Hardheim im Odenwald hat Benimmregeln für Flüchtlinge aufgestellt. FAZ.NET dokumentiert das umstrittene Schreiben im Wortlaut.

© CC BY-SA 3.0Idylle bewahren mit Benimmregeln: Blick über Hardheim im Odenwald (mit Modellrakete von der Walter-Hohmann-Anhöhe)
Die Gemeinde Hardheim im Neckar-Odenwald-Kreis hat Benimmregeln für die Flüchtlinge in dem Ort aufgestellt. Für den belehrenden Ton, teilweise auch für die idealisierende Darstellung deutscher Gebräuche war die Gemeinde von mehreren Seiten kritisiert worden. Beispielsweise heißt es in dem Schreiben, in Deutschland werde die Notdurft „ausschließlich auf Toiletten, nicht in Gärten und Parks, auch nicht an Hecken und hinter Büschen“, verrichtet. Das dem – leider – nicht so ist, kann man etwa auf Partymeilen oder nach Fußballspielen nur zu oft beobachten.
Nun hat die Gemeinde das umstrittene Schreiben verteidigt. „Der Leitfaden ist nicht als Schikane gedacht, sondern soll das Zusammenleben zwischen Asylbewerbern und Bevölkerung erleichtern“, sagte der Hardheimer Bürgermeister Volker Rohm (Freie Wähler) am Donnerstag der dpa. „Wir wollen die Asylbewerber damit nicht zu guten Deutschen machen.“ In der kleinen Gemeinde mit 4600 Einwohnern sind nach Angeben der Verwaltung derzeit 1000 Flüchtlinge untergebracht.
Dies ist der Wortlaut des Textes, der den Flüchtlingen „in vereinfachter Form in den verschiedenen Landessprachen durch Bedienstete des Betreibers näher gebracht“ wird:
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„Liebe fremde Frau, lieber fremder Mann!
Willkommen in Deutschland, willkommen in Hardheim. Viele von Ihnen haben Schreckliches durchgemacht. Krieg, Lebensgefahr, eine gefährliche Flucht durch die halbe Welt. Das ist nun vorbei. Sie sind jetzt in Deutschland.
Deutschland ist ein friedliches Land. Nun liegt es an Ihnen, dass sie nicht fremd bleiben in unserem Land, sondern ein Zusammenleben zwischen Flüchtlingen und Einwohnern erleichtert wird. Eine Bitte zu Beginn: Lernen sie so schnell wie möglich die deutsche Sprache, damit wir uns verständigen können und auch sie ihre Bedürfnisse zum Ausdruck bringen können.
In Deutschland leben die Menschen mit vielen Freiheiten nebeneinander und miteinander: Es gilt Religionsfreiheit für alle. Frauen dürfen ein selbstbestimmtes Leben führen und haben dieselben Rechte wie die Männer. Man behandelt Frauen mit Respekt.
In Deutschland respektiert man das Eigentum der anderen. Man betritt kein Privatgrundstück, keine Gärten, Scheunen und andere Gebäude und erntet auch kein Obst und Gemüse, das einem nicht gehört.
Deutschland ist ein sauberes Land und das soll es auch bleiben! Den Müll oder Abfall entsorgt man in dafür vorgesehenen Mülltonnen oder Abfalleimer. Wenn man unterwegs ist, nimmt man seinen Müll mit zum nächsten Mülleimer und wirft ihn nicht einfach weg.
In Deutschland bezahlt man erst die Ware im Supermarkt, bevor man sie öffnet.
In Deutschland wird Wasser zum Kochen, Waschen, Putzen verwendet. Auch wird es hier für die Toilettenspülungen benutzt. Es gibt bei uns öffentliche Toiletten, die für jeden zugänglich sind. Wenn man solche Toiletten benutzt, ist es hier zu Lande üblich, diese sauber zu hinterlassen.
In Deutschland gilt ab 22.00 Uhr die Nachtruhe. Nach 22.00 Uhr verhält man sich dementsprechend ruhig, um seine Mitmenschen nicht zu stören.
Auch für Fahrradfahrer gibt es bei uns Regeln, um selbst sicher zu fahren, aber auch keine anderen zu gefährden. (Nicht auf Gehwegen fahren, nicht zu dritt ein Rad benutzen, kaputte Bremsen reparieren und nicht mit den Füßen bremsen). Fußgänger benutzen bei uns die Fußwege oder gehen, wenn keiner vorhanden, hintereinander am Straßenrand, nicht auf der Straße und schon gar nicht nebeneinander.
Unsere Notdurft verrichten wir ausschließlich auf Toiletten, nicht in Gärten und Parks, auch nicht an Hecken und hinter Büschen.
Mädchen und junge Frauen fühlen sich durch Ansprache und Erbitte von Handy-Nr. und facebook-Kontakt belästigt. Bitte dieses deshalb nicht tun!
Auch wenn die Situation für sie und auch für uns sehr beengt und nicht einfach ist, möchten wir sie daran erinnern, dass wir sie hier bedingungslos aufgenommen haben. Wir bitten sie deshalb, diese Aufnahme wert zu schätzen und diese Regeln zu beachten, dann wird ein gemeinsames Miteinander für alle möglich sein.“
Quelle: dpa/sku.

Byung-Chul Han : "Tut mir leid, aber das sind Tatsachen

http://www.zeit.de/zeit-wissen/2014/05/byung-chul-han-philosophie-neoliberalismus/komplettansicht

Byung-Chul Han:"Tut mir leid, aber das sind Tatsachen"

Er gilt als neuer Star seiner Zunft, er kann mit wenigen Sätzen Gedankengebäude zum Einsturz bringen, die unseren Alltag tragen. Dafür wird er verehrt und angegriffen. Ein Gespräch mit dem Berliner Philosophen Byung-Chul Han
Der Philosoph Byung-Chul Han
Der Philosoph Byung-Chul Han © S. Fischer Verlag
Byung-Chul Han hat das Café Liebling im Prenzlauer Berg als Treffpunkt vorgeschlagen. Der scheue Philosoph lehrt an der Berliner Universität der Künste und hat mit Büchern über die "Müdigkeitsgesellschaft" unddie "Transparenzgesellschaft" Furore gemacht. Er meidet Interviews. 
Die für das Treffen vereinbarte Uhrzeit ist seit zehn Minuten überschritten. Lässt er uns sitzen? Da kommt Han mit dem Fahrrad die Straße herunter. Er setzt sich und bestellt eine Cola.
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ZEIT Wissen: Woher kommen Sie gerade?
Byung-Chul Han: Vom Schreibtisch, wie immer.
ZEIT Wissen: Woran arbeiten Sie?
Han: Ich schreibe an einem neuen Buch über das Schöne. Den Entschluss habe ich gefasst, als ich ein Interview mit Botho Strauss las. Auf die Frage "Was fehlt Ihnen?" antwortet Botho Strauss: "Das Schöne." Mehr hat er nicht gesagt – mir fehlt das Schöne, und ich habe das begriffen. Dann dachte ich mir, ich schreibe ein Buch über das Schöne.
ZEIT Wissen: Sie denken nun über das Schöne nach. Wie sieht denn das Denken konkret aus?
Han: Denken besteht darin, Ähnlichkeiten wahrzunehmen. Ich mache oft die Erfahrung, dass ich plötzlich Ähnlichkeiten zwischen Ereignissen wahrnehme, zwischen einem gegenwärtigen Ereignis und einem früheren Ereignis. Oder zwischen den Dingen, die gleichzeitig stattfinden. Ich gehe diesen Beziehungen nach.
ZEIT Wissen: Und was heißt das für das Schöne?
Han: Ich nehme einen Zusammenhang wahr zwischen verschiedenen Dingen, die heute stattfinden oder die heute beliebt sind. Zum BeispielBrazilian Waxing, die Skulpturen von Jeff Koons und das iPhone.
NIELS BOEING UND ANDREAS LEBERT
waren darauf vorbereitet, dass die Weltsicht des Philosophen Byung-Chul Han sie in eher düstere Stimmung versetzen würde. Aber nach vier Stunden Gespräch herrschte eine fast beschwingte Atmosphäre. Vielleicht eine Bestätigung von Hans These, dass vor allem ein Übermaß des Positiven eine Depression auslöst.
ZEIT Wissen: Sie vergleichen die Entfernung von Körperhaaren mit einem Smartphone und einem Künstler?
Han: Die Gemeinsamkeit ist doch ganz einfach zu sehen: Es ist das Glatte. Das Glatte charakterisiert unsere Gegenwart. Kennen Sie das G Flex, ein Smartphone von LG? Dieses Smartphone ist mit einer besonderen Beschichtung versehen: Wenn Kratzer entstehen, dann verschwinden diese nach kürzester Zeit, es hat also eine selbst heilende Haut, fast eine organische Haut. Das heißt, das Smartphone bleibt ganz glatt. Ich frage mich: Warum stören einen ein paar Kratzer, die auf einem Gegenstand entstehen? Warum dieses Streben nach einer glatten Oberfläche? Schon eröffnet sich ein Zusammenhang zwischen dem glatten Smartphone, der glatten Haut und der Liebe.
ZEIT Wissen: Liebe? Das müssen Sie bitte erklären.
Han: Diese glatte Oberfläche des Smartphones ist eine Haut, die nicht verletzbar ist, die sich jeder Verletzung entzieht. Und ist es nicht tatsächlich so, dass man auch in der Liebe heute jede Verletzung meidet? Man will nicht verletzlich sein, man scheut jedes Verletzen und jedes Verletztsein. Für die Liebe braucht man einen hohen Einsatz. Aber man meidet diesen hohen Einsatz, weil er zur Verletzung führt. Man vermeidet Leidenschaft, und in Liebe zu verfallen ist schon zu viel Verletzung.
Man darf nicht mehr in Liebe verfallen, im Französischen würde man sagen "tomber amoureux". Dieses Fallen ist zu negativ, schon eine Verletzung, die zu vermeiden ist. Das verbinde ich mit einem anderen Gedanken ...
Dieser Text stammt aus dem ZEIT Wissen 5/2014, das am Kiosk erhältlich ist.
Dieser Text stammt aus dem ZEIT Wissen 5/2014, das am Kiosk erhältlich ist.
Wir leben in einem Zeitalter des "Like". Es gibt keinen "Dislike"-Button bei Facebook, es gibt nur "Like". Und dieses "Like" beschleunigt Kommunikation, während "Dislike" die Kommunikation stocken lässt. Auch eine Verletzung lässt die Kommunikation stocken. Selbst die Kunst will heute nicht mehr verletzen. Bei Jeff Koons’ Skulpturen gibt es keine Verletzung, keine Brüche, keine Risse, keine Bruchstellen, keine scharfen Kanten, auch keine Nähte. Alles fließt in weichen, glatten Übergängen. Alles wirkt abgerundet, abgeschliffen, geglättet – Jeff Koons’ Kunst gilt glatter Oberfläche. Heute entsteht eine Kultur der Gefälligkeit. Das kann ich auch auf die Politik beziehen.
ZEIT Wissen: Entsteht also eine glatte Politik?
Han: Auch die Politik meidet heute jeden hohen Einsatz. Es entsteht eine Politik der Gefälligkeit. Wer ist ein exemplarischer Politiker dieser Gefälligkeit? Vielleicht Angela Merkel. Daher ist sie ja auch so beliebt. Sie hat offenbar keine festen Überzeugungen, keine Visionen. Sie schaut auf die Straße, und je nach der Stimmung auf der Straße ändert sie die Meinung. Nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima ist sie plötzlich gegen Atomkraft. Man könnte auch sagen, sie ist aalglatt. Heute haben wir es tatsächlich mit einer glatten Politik zu tun.
Es gibt einen interessanten Zusammenhang zwischen glatter Haut, glatter Kunst und glatter Politik. Die politische Handlung im emphatischen Sinne braucht aber eine Vision und einen hohen Einsatz. Sie muss auch verletzen können. Das tut aber die glatte Politik von heute nicht. Nicht nur Angela Merkel, sondern die Politiker von heute sind nicht fähig dazu. Sie sind nur noch gefällige Handlanger des Systems. Sie reparieren da, wo das System ausfällt, und zwar im schönen Schein der Alternativlosigkeit. Die Politik muss aber eine Alternative anbieten. Sonst unterscheidet sie sich nicht von der Diktatur. Heute leben wir in einer Diktatur des Neoliberalismus. Im Neoliberalismus ist jeder von uns Unternehmer seiner selbst. Kapitalismus zu Zeiten von Marx hatte eine ganz andere Arbeitsstruktur. Die Wirtschaft bestand aus Fabrikbesitzern und Fabrikarbeitern, und kein Fabrikarbeiter war der Unternehmer seiner selbst. Es fand eine Fremdausbeutung statt. Heute findet eine Selbstausbeutung statt – ich beute mich aus in der Illusion, dass ich mich verwirkliche.

"Freiheit ist eine Gegenfigur des Zwanges"

ZEIT Wissen: Der Begriff Neoliberalismus wird deshalb gern auch als Kampfbegriff der Linken bezeichnet.
Han: Das stimmt nicht. Neoliberalismus bezeichnet den Zustand der heutigen Gesellschaft sehr gut, denn es geht um die Ausbeutung der Freiheit. Das System will immer produktiver werden, und so schaltet es von der Fremdausbeutung auf die Selbstausbeutung, weil dies mehr Effizienz und mehr Produktivität generiert, alles unter dem Deckmantel der Freiheit.
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ZEIT Wissen: Ihre Analyse klingt nicht besonders ermutigend. Wir beuten uns selbst aus, wir riskieren nichts, weder in der Liebe noch in der Politik, wir wollen nicht verletzt werden und nicht verletzen.
Han: Tut mir leid, aber das ist eine Tatsache.
ZEIT Wissen: Wie kann ein Einzelner in dieser Gesellschaft sein Glück finden – sollen wir uns mehr für unsere Ideale engagieren?
Han: Das System erschwert das. Wir wissen ja nicht einmal, was wir wollen. Die Bedürfnisse, die ich als meine Bedürfnisse wahrnehme, sind nicht meine Bedürfnisse. Nehmen Sie den Textildiscounter Primark. Menschen organisieren sich in Fahrgemeinschaften, weil es Primark nicht in jeder Stadt gibt. Dann kommen sie an und plündern fast den Laden. In einem Zeitungsartikel wurde neulich von einem Mädchen berichtet: Als es erfuhr, dass Primark auf dem Alexanderplatz neben C&A einzieht, schrie es vor Freude auf und sagte, wenn Primark hier entsteht, ist mein Leben perfekt. Ist dieses Leben wirklich ein perfektes Leben für sie, oder ist es eine Illusion, die diese Konsumkultur erzeugt hat? Schauen wir genau hin, was da passiert. Mädchen kaufen hundert Kleider, jedes Kleid kostet vielleicht fünf Euro – was schon für sich genommen ein Wahnsinn ist, weil für solche Klamotten Menschen in den Ländern wie Bangladesch sterben, wenn eine Kleiderfabrik einstürzt. Die Mädchen kaufen also hundert Kleider, aber sie ziehen sie kaum an. Wissen Sie, was die damit machen?
ZEIT Wissen: Sie präsentieren die Kleidung auf YouTube, in Haul-Videos.
Han: Genau, sie machen damit Werbung! Sie erstellen massenweise Videos, in denen sie die Kleider anpreisen, die sie gekauft haben, und Model spielen. Jedes YouTube-Video wird eine halbe Million Mal angeklickt. Konsumenten kaufen Kleider oder andere Dinge, aber sie gebrauchen sie nicht, sondern sie machen Werbung, und diese Werbung generiert neuen Konsum. Das heißt, es ist ein absoluter Konsum entstanden, der vom Gebrauch der Dinge abgekoppelt ist. Das Unternehmen hat die Werbung an die Konsumenten deligiert. Es macht selbst keine Werbung. Das ist ein perfektes System.
ZEIT Wissen: Sollte man dagegen protestieren?
Han: Warum sollte ich dagegen protestieren, wenn Primark kommt und mein Leben perfekt wird?
ZEIT Wissen: "Die Freiheit wird eine Episode gewesen sein", schreiben Sie in Ihrem neuen Buch Psychopolitik. Warum?
Han: Freiheit ist eine Gegenfigur des Zwanges. Wenn man den Zwang, dem man unbewusst unterworfen ist, als Freiheit empfindet, ist das das Ende der Freiheit. Deshalb sind wir in einer Krise. Die Krise der Freiheit besteht darin, dass wir den Zwang als Freiheit wahrnehmen. Da ist kein Widerstand möglich. Wenn Sie mich zu etwas zwingen, kann ich mich gegen diesen äußeren Zwang wehren. Aber wenn kein Gegenüber mehr da ist, das mich zu etwas zwingt, dann ist kein Widerstand möglich. Deshalb lautet das Motto, das ich meinem Buch als Motto vorangestellt habe: "Protect me from what I want." Der berühmte Satz der Künstlerin Jenny Holzer.
ZEIT Wissen: Wir müssen uns also vor uns selbst beschützen?
Han: Wenn ein System die Freiheit angreift, muss ich mich wehren. Das Perfide ist aber, dass das System heute die Freiheit nicht angreift, sondern sie instrumentalisiert. Ein Beispiel: Als es in den achtziger Jahren die Volkszählung gab, sind alle auf die Barrikaden gegangen. In einer Behörde ist sogar eine Bombe hochgegangen. Die Menschen sind auf die Straßen gegangen, weil sie einen Feind hatten, nämlich den Staat, der ihnen gegen ihren Willen Informationen entreißen wollte. Heute geben wir mehr Daten über uns preis als jemals zuvor. Warum kommt es zu keinem Protest? Weil wir uns im Gegensatz zu damals frei fühlen. Die Menschen damals fühlten sich in ihrer Freiheit angegriffen, eingeschränkt. Und deshalb sind sie auf die Straße gegangen. Heute fühlen wir uns frei. Wir geben unsere Daten freiwillig heraus.
ZEIT Wissen: Vielleicht, weil das Smartphone uns dabei helfen kann, dahin zu kommen, wo wir hinwollen. Wir schätzen den Nutzen größer ein als den Schaden.
Han: Mag sein, aber von der Struktur unterscheidet sich diese Gesellschaft nicht vom Feudalismus des Mittelalters. Wir befinden uns in einer Leibeigenschaft. Die digitalen Feudalherren wie Facebook geben uns Land, sagen: Beackert es, ihr bekommt es kostenlos. Und wir beackern es wie verrückt, dieses Land. Am Ende kommen die Lehnsherren und holen die Ernte. Das ist eine Ausbeutung der Kommunikation. Wir kommunizieren miteinander, und wir fühlen uns dabei frei. Die Lehnsherren schlagen Kapital aus dieser Kommunikation. Und Geheimdienste überwachen sie. Dieses System ist extrem effizient. Es gibt keinen Protest dagegen, weil wir in einem System leben, das die Freiheit ausbeutet.

"Die heutige digitale Gesellschaft ist keine klassenlose Gesellschaft"

ZEIT Wissen: Wie gehen Sie persönlich damit um?
Han: Ich werde wie jeder von uns unruhig, wenn ich nicht vernetzt bin, klar. Ich bin auch ein Opfer. Ohne diese ganze digitale Kommunikation kann ich meinen Beruf nicht ausüben, als Professor und als Publizist. Jeder ist eingebunden, eingespannt.
ZEIT Wissen: Welche Rolle spielen die Big-Data-Technologien?
Han: Eine wichtige, weil Big Data nicht nur für die Überwachung eingesetzt wird, sondern vor allem für die Steuerung des menschlichen Verhaltens. Und wenn das menschliche Verhalten gesteuert wird, wenn die Entscheidungen, die wir treffen, in dem Gefühl, frei zu sein, total manipuliert sind, ist unser freier Wille gefährdet. Das heißt, Big Data stellt unseren freien Willen infrage.
ZEIT Wissen: Sie schreiben, Big Data lasse eine neue Klassengesellschaft entstehen.
Han: Die heutige digitale Gesellschaft ist keine klassenlose Gesellschaft. Nehmen Sie die Datenfirma Acxiom: Sie unterteilt Menschen in Kategorien. Die letzte Kategorie heißt "waste" – Müll. Acxiom handelt mit den Daten von rund 300 Millionen US-Bürgern, also von beinahe allen. Die Firma weiß inzwischen mehr über die US-Bürger als das FBI, wahrscheinlich sogar mehr als die NSA. Bei Acxiom werden die Menschen in siebzig Kategorien eingeteilt, im Katalog werden sie wie Waren angeboten, und für jeden Bedarf gibt es etwas zu kaufen. Konsumenten mit hohem Marktwert finden sich in der Gruppe "Shooting Stars". Sie sind zwischen 26 und 45 Jahre alt, dynamisch, stehen zum Joggen früh auf, haben keine Kinder, sind aber vielleicht verheiratet und pflegen einen veganen Lebensstil, reisen gern, schauen die Fernsehserie Seinfeld. So lässt Big Data eine neue, digitale Klassengesellschaft entstehen.
ZEIT Wissen: Und wer gehört alles zur "Waste"-Klasse?
Han: Diejenigen mit schlechtem Score-Wert. Sie bekommen beispielsweise keine Kredite. Und so tritt neben das Panoptikum, das ideale Gefängnis Jeremy Benthams, ein "Bannoptikum", wie der Soziologe Zygmunt Bauman es genannt hat. Das Panoptikum überwacht die eingeschlossenen Insassen des Systems, das Bannoptikum ist dagegen ein Dispositiv, das die systemfernen oder systemfeindlichen Personen als unerwünscht identifiziert und ausschließt. Das klassische Panoptikum dient der Disziplinierung, das Bannoptikum dagegen sorgt für Sicherheit und Effizienz des Systems. Interessant ist, dass NSA und Acxiom zusammenarbeiten, also Geheimdienst und Markt.
ZEIT Wissen: Wäre es vorstellbar, dass die "Waste"-Klasse irgendwann eine gewisse kritische Größe erreicht, sodass sie für die Kontrollgesellschaft nicht mehr zu handhaben ist?
Han: Nein. Die verstecken sich, die schämen sich, das sind zum Beispiel "Hartzer". Sie werden ständig in Angst versetzt. Es ist Wahnsinn, in welcher Angst die Hartzer hier leben. Sie werden festgehalten in diesem Bannoptikum, auf dass sie nicht ausbrechen aus ihrer Angstzelle. Ich kenne viele Hartzer, sie werden wie Müll behandelt. In einem der reichsten Länder der Welt, in Deutschland, werden Menschen wie Abschaum behandelt. Ihnen wird die Würde genommen. Diese Menschen protestieren natürlich nicht, weil sie sich schämen. Sie beschuldigen sich selbst, anstatt die Gesellschaft verantwortlich zu machen, anzuklagen. Von dieser Klasse kann man keine politische Handlung erwarten.
ZEIT Wissen: Ganz schön deprimierend. Wo wird das alles enden?
Han: Es wird jedenfalls nicht so weitergehen, schon aufgrund der materiellen Ressourcen. Das Öl reicht vielleicht noch für 50 Jahre. Wir leben hier in Deutschland in einer Illusion. Wir haben die Produktion weitgehend verlagert. In China werden unsere Computer, unsere Kleidung, unsere Handys produziert. Aber die Wüste kommt Peking immer näher. Und man kann dort wegen des Smogs kaum noch atmen. Als ich in Korea war, habe ich erlebt, dass diese gelben Staubwolken bis nach Seoul kamen. Man musste eine Schutzmaske tragen, weil der Feinstaub die Lungen beschädigt. Es ist dramatisch, wie sich die Dinge da entwickeln. Selbst wenn es noch eine Weile gut läuft – was für ein Leben ist das? Oder schauen Sie sich die Menschen an, die ihren Körper mit allen möglichen Sensoren ausstatten und rund um die Uhr Blutdruck, Blutzuckerwert und Fettanteil messen und diese Daten ins Netz stellen! Man nennt das Self-Tracking. Diese Menschen sind bereits Zombies, sie sind Puppen, die von unbekannten Gewalten am Draht gezogen werden, wie Georg Büchner in Dantons Tod gesagt hat.
An dieser Stelle sei erwähnt, dass das Gespräch im Café Liebling immer wieder Gefahr lief, seine Melodie zu verlieren. Es traten nämlich ständig Straßenmusiker an unseren Tisch, die ihre Instrumente bedenklich nahe am Aufnahmegerät postierten und gut gelaunt loslegten. Ein Saxofonspieler mit Glenn-Miller-Hits, ein Akkordeonspieler mit Pariser Flair, ein Sänger und Gitarrist mit "Que Sera"-Refrains. Aber Byung-Chul Han spricht sehr konzentriert, man meint, ihm zusehen zu können, wie er die Gedanken formt, bis sie schließlich zu Sätzen werden, die er dann präzise aneinanderreiht. Seine Aufmerksamkeit gilt in solchen Momenten ganz und gar den Gedanken – und nicht den Menschen, denen er sie unterbreitet. Auch das Unterhaltungsprogramm konnte ihn nicht beirren.

"Glück ist auch kein Zustand, den ich anstrebe"

ZEIT Wissen: Professor Han, Sie haben in Südkorea zuerst Metallurgie studiert. Wie kam es, dass aus dem angehenden Metalltechniker Byung-Chul Han ein Philosoph und vehementer Systemkritiker wurde?
Han: Ich bin ein Technikfreak. Ich habe als Kind leidenschaftlich gebastelt, an Radios und anderen elektronischen und mechanischen Geräten. Eigentlich wollte ich Elektrotechnik oder Maschinenbau studieren, aber dann wurde es Metallurgie. Ich war wirklich ein begeisterter Techniker und Bastler.
ZEIT Wissen: Und warum haben Sie aufgehört?
Han: Weil es einmal beim Experimentieren mit Chemikalien eine Explosion gab. Ich habe heute noch Narben davon. Ich wäre fast gestorben oder zumindest aber blind geworden.
ZEIT Wissen: Wo war das?
Han: Bei mir zu Hause in Seoul. Ich war Schüler. Ich habe ganzen Tag rumgebastelt, gefräst, gelötet. Meine Schubladen waren voll von Drähten, Messgeräten und Chemikalien. Ich war eine Art Alchemist. Metallurgie ist ja eine moderne Alchemie. Aber vom Tag der Explosion an habe ich aufgehört. Ich bastle heute noch, aber nicht mit Drähten oder Lötkolben. Auch Denken ist Basteln. Und das Denken kann zu einer Explosion führen. Denken ist die gefährlichste Tätigkeit, vielleicht gefährlicher als die Atombombe. Es kann die Welt verändern. Daher sagte auch Lenin: "Lernen, lernen, lernen!"
ZEIT Wissen: Wollen Sie Menschen verletzen?
Han: Nein. Ich versuche, das zu beschreiben, was vorliegt. Es ist schwer, die Dinge zu durchschauen. Deshalb versuche ich, mehr zu sehen – sehen zu lernen. Ich schreibe auf, was ich gesehen habe. Meine Bücher könnten doch verletzen, weil ich Dinge zeige, die man nicht sehen will. Nicht ich, nicht meine Analyse ist gnadenlos, sondern die Welt, in der wir leben, ist gnadenlos, verrückt und absurd.
ZEIT Wissen: Sind Sie ein glücklicher Mensch?
Han: Die Frage stelle ich nicht.
ZEIT Wissen: Sie meinen, die Frage stellt man sich nicht?
Han: Das ist eigentlich eine sinnlose Frage. Glück ist auch kein Zustand, den ich anstrebe. Man muss den Begriff definieren. Was verstehen Sie unter Glück?
ZEIT Wissen: Ganz simpel: Ich bin gern auf der Welt, ich fühle mich auf der Welt zu Hause, ich freue mich an der Welt, ich schlafe gut.
Han: Fangen wir mit Letzterem an. Ich schlafe schlecht. Ich habe vorgestern das Symposion mit dem Philosophen Wilhelm Schmidt über das gute Leben mit einer Musik eingeleitet: den Goldberg-Variationen.Bach hatte die Goldberg-Variationen für einen Grafen komponiert, der unter schwerer Schlaflosigkeit litt. Ich habe das Publikum dazu an den ersten Satz von Marcel Prousts Suche nach der verlorenen Zeit erinnert. Auf Deutsch heißt es: "Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen." Aber auf Französisch steht dort: "Longtemps je me suis couché de bonne heure."Bonheur heißt Glück. Die richtige Übersetzung wäre also: "Lange Zeit bin ich glücklich schlafen gegangen." Ich habe dem Publikum gesagt, dass der gute Schlaf ein Zeichnen dafür ist, dass man ein gutes, ein glückliches Leben hat. Ich selbst habe Schlafstörungen.
ZEIT Wissen: Was machen Sie, wenn Sie nicht schlafen können?
Han: Was ich mache? Ich liege da. Zu dem anderen Punkt: Bin ich gern auf der Welt? Wie kann man in dieser falschen Welt gern sein? Das geht nicht. Deshalb bin ich auch nicht glücklich. Ich verstehe die Welt oft nicht. Sie erscheint mir sehr absurd. Im Absurden kann man nicht glücklich sein. Fürs Glück braucht man, so denke ich, viel Illusion.
ZEIT Wissen: Sie freuen sich an ...?
Han: An was?
ZEIT Wissen: Irgendwas!
Han: An der Welt kann ich mich nicht freuen.
ZEIT Wissen: An einem guten Stück Kuchen?
Han: Kuchen esse ich nicht. An einem guten Essen könnte ich mich freuen, aber das Essen in Berlin, in Deutschland ist ein Problem. Die Deutschen scheinen das gute Essen nicht zu schätzen. Das kommt vielleicht vom Protestantismus, dieser Sinnenfeindlichkeit. In Asien hat das Essen einen ganz anderen, einen sehr hohen Wert. Man gibt auch viel Geld dafür aus, anders als in Deutschland. In Japan zum Beispiel: Das Essen ist dort ein Kult und eine Ästhetik. Vor allem diese unglaubliche Frische der Dinge! Auch ein wohlduftender Reis könnte einen schon beglücken.
ZEIT Wissen: Das klingt nun doch wie ein Quäntchen Glück. Sie leben seit 30 Jahren in Deutschland. Wie haben Sie das ausgehalten?
Han: Ich würde nicht sagen: aushalten. Ich lebe gern in Deutschland. Ich liebe die Ruhe hier. In Seoul habe ich sie nicht. Ich liebe vor allem die deutsche Sprache, auch deren Wörter. Das würde man merken, wenn man meine Bücher liest. Ich habe hier eine Sprache, mit der ich sehr gut philosophieren kann. Ja es gibt hier doch Dinge, die mich beglücken. Essen weniger, aber Bach, gespielt von Glenn Gould. Ich höre Bach oft stundenlang. Ich weiß nicht, ob ich in Deutschland bis heute geblieben wäre ohne Bach, ohne Winterreise von Schubert, ohne Dichterliebe von Schumann. Neben meinem Philosophiestudium habe ich früher sehr viel gesungen, vor allem Lieder von Schumann und Schubert, dafür habe ich auch viel Gesangsunterricht genommen. Winterreise singen, vom Klavier begleitet, das ist sehr schön ...

"Der Sprache wird heute die Sprache genommen"

ZEIT Wissen: Es gibt doch Schönes! Sie verbringen viel Zeit damit, die Welt schlechtzureden.
Han: Vielleicht. Ich bringe meine Studenten tatsächlich zur Verzweiflung, weil ich ihnen alle diese Problematiken in meiner Vorlesung erzähle. Als ich in der vorletzten Sitzung gesagt habe, heute werden wir auf Lösungen hindenken, haben einige geklatscht. Endlich! Er erlöst uns nun aus der Verzweiflung!
ZEIT Wissen: Wie schön. Über Lösungen wollten wir mit Ihnen auch noch reden.
Han: Ich wollte auf Lösungen hindenken, aber dann habe ich nur weitere Probleme geschildert.
ZEIT Wissen: Na schön. Was für Probleme gibt es noch?
Han: Es gibt heute keine Sprache – es gibt eine Sprachlosigkeit und eine Ratlosigkeit. Der Sprache wird heute die Sprache genommen. Auf der einen Seite gibt es einen ungeheuren Lärm, einen Kommunikationslärm, auf der anderen Seite eine unheimliche Stummheit. Und diese Stummheit unterscheidet sich vom Schweigen. Schweigen ist sehr beredt. Schweigen hat eine Sprache. Stille ist auch beredt. Stille kann auch Sprache sein. Aber der Lärm und die Stummheit sind ohne Sprache. Es gibt nur sprachlose, lärmende Kommunikation, das ist ein Problem. Heute gibt es nicht einmal Wissen, sondern nur Information. Wissen ist etwas ganz anderes als Information. Wissen und Wahrheit klingen heute sehr veraltet. Wissen hat auch eine ganze andere Zeitstruktur. Es spannt sich zwischen Vergangenheit und Zukunft. Und die Zeitlichkeit der Information ist die Gegenwart, das Präsens. Wissen beruht auch auf der Erfahrung. Ein Meister verfügt über Wissen. Heute leben wir mit einem Terror des Dilettantismus.
ZEIT Wissen: Wie beurteilen Sie das, was die Wissenschaft macht? Schafft Sie kein Wissen?
Han: Wissenschaftler reflektieren heute nicht den gesellschaftlichen Kontext des Wissens. Sie machen eine positive Forschung. Jedes Wissen findet in einem Herrschaftsverhältnis statt. Ein Herrschaftsverhältnis, ein neues Dispositiv generiert ein neues Wissen, einen neuen Diskurs. Wissen ist immer eingebettet in eine Herrschaftsstruktur. Man kann einfach positive Forschung betreiben, ohne zu erkennen, dass man unter dem Bann dieser Macht steht, und ohne sich auf die Kontexualität des Wissens zu besinnen. Diese Besinnung auf die Kontexualität findet heute nicht statt. Auch die Philosophie wird eine positive Wissenschaft. Sie bezieht sich nicht auf die Gesellschaft, sondern nur auf sich selbst. So wird sie gesellschaftsblind.
ZEIT Wissen: Sie beziehen das auf den gesamten Wissenschaftsbetrieb?
Han: Mehr oder weniger. Es findet heute eine Google-Wissenschaft statt, ohne kritische Reflexion über die eigene Tätigkeit. Geisteswissenschaften müssten kritisch über die eigene Tätigkeit nachdenken, aber das findet nicht statt. Viele betreiben heute zum Beispiel Emotionsforschung. Ich würde gern mal einen Wissenschaftler, der in dieser Forschung involviert ist, fragen: Warum tun Sie das, was Sie tun? Die denken über die eigene Tätigkeit nicht nach.
ZEIT Wissen: Was schlagen Sie vor?
Han: Was für eine gesellschaftliche Relevanz haben die Geisteswissenschaften, darum geht es doch. Man muss sich im Klaren sein über den gesellschaftlichen Hintergrund der eigenen Forschung, weil jedes Wissen eingespannt ist in die Herrschaftsstruktur eines Systems. Warum wird die Emotionsforschung heute so intensiv betrieben? Vielleicht weil Emotionen heute eine Produktivkraft darstellen. Emotionen werden als Steuerungsmittel eingesetzt. Wenn man Einfluss nimmt auf Emotionen, wird das menschliche Verhalten auf einer unbewussten Ebene gesteuert und manipuliert.
ZEIT Wissen: Jetzt klingen Sie wie ein Verschwörungstheoretiker. Kann man mit mehr Intelligenz ein besseres System schaffen?
Han: Intelligenz ist intel-legere, ein Dazwischenlesen, eine Unterscheidung. Intelligenz ist eine Tätigkeit des Unterscheidens innerhalb eines Systems. Intelligenz kann kein neues System, keine neue Sprache entwickeln. Der Geist ist etwas ganz anderes als Intelligenz. Ich glaube nicht , dass ein sehr intelligenter Computer den menschlichen Geist kopieren könnte. Man kann eine total intelligente Maschine entwerfen, aber die Maschine wird nie eine neue Sprache, etwas ganz anderes erfinden, das glaube ich nicht. Eine Maschine hat keinen Geist. Keine Maschine kann mehr hervorbringen, als sie aufgenommen hat. Gerade darin besteht das Wunder des Lebens, dass es mehr hervorbringen kann, als es aufgenommen hat, und etwas ganz anderes hervorbringt, als das, was es aufgenommen hat. Das ist das Leben. Leben ist Geist. Darin unterscheidet es sich von der Maschine. Aber dieses Leben ist da bedroht, wo alles maschinell wird, wo alles von Algorithmen beherrscht wird. Der unsterbliche, maschinelle Mensch, der den Posthumanisten wie Ray Kurzweil vorschwebt, wird kein Mensch mehr sein. Vielleicht werden wir irgendwann mithilfe von Technik Unsterblichkeit erlangen können, dafür werden wir das Leben verlieren. Wir werden Unsterblichkeit erreichen um den Preis des Lebens. 
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